Wenn alles einfach wäre, dann wären wir im Paradies. Dann hätte jeder Mensch genug für ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch und Familie und Freunde, die das Essen mit einem teilen.
Aber dem ist nicht so. Jeder Mensch hat seine Probleme. Manche größer, andere kleiner. Einige sind sichtbar, andere nicht. Auf die sichtbaren wird man angesprochen, die unsichtbaren werden verschwiegen, unter den Teppich gekehrt.
Doch was passiert, wenn alle unsichtbaren Probleme auf einmal sichtbar werden. Wenn man jedem sofort ansehen kann, welches Problem er hat. Würde dann auch jedem Menschen geholfen werden? Oder würde es uns alle nur noch mehr spalten?
Nehmen wir einmal an, dass jede Krankheit, egal ob physisch oder psychisch für jeden auf den ersten Blick erkennbar wäre. Was würde das mit unserer Gesellschaft machen? Würden wir aufeinander zugehen? Oder würden wir die Menschen, welche wir mit den unsichtbaren Problemen vorher noch als Freunde angesehen haben meiden, als hätten sie etwas Ansteckendes?
Manchmal liege ich abends wach und denke über genau das nach. Wie würde ich reagieren? Darauf, dass jeder sehen kann, dass ich Depressionen habe und Panikattacken. Und wie würde ich reagieren, wenn ich es bei anderen sehen würde?
Natürlich kann ich mich jetzt hinstellen und sagen, dass ich jeden mit seinen Problemen annehme und jedem nach bestem Wissen und Gewissen helfen würde. Aber das wäre gelogen!
Ich hätte absolut keine Ahnung, wo ich bei meinem Gegenüber ansetzen soll. Will diese Person überhaupt meine Hilfe?
Eines ist sicher, ich würde alles tun, um den Leuten zu helfen, die mir wichtig sind. Aber einem völlig Fremden der mir auf der Straße begegnet? Ich würde es wollen, aber nichts machen. Tagelang hätte ich ein schlechtes Gewissen, wie ich diese Person mit ihrem Problem einfach an mir habe vorbeilaufen lassen. Warum ich nicht alles stehen und liegen gelassen habe, um ihr zu helfen.
Aber was wäre, wenn ich angehalten hätte und die Person auf ihr Problem angesprochen hätte? Hätte sie meine Hilfe angenommen? Und wenn ja, was hätte ich getan.
Lasst mich einmal ganz ehrlich sein:
Wären meine Probleme für jedermann sichtbar, ich würde meine Wohnung nicht mehr verlassen. Und würde mir jemand seine Hilfe anbieten, ich hätte sie abgelehnt, nur um der Person nicht zur Last zu fallen.
Natürlich geht jeder mit seinen Problemen anders um. Einige, und in meinen Augen auch die mutigsten, vertrauen sich nicht nur ihren Therapeuten, sondern auch ihren Familien und Freunden an. Und davor habe ich den größten Respekt!
Bei mir hat es Jahre gedauert, bis ich mir erstmal selbst eingestanden habe, dass mit mir etwas nicht ganz in Ordnung ist. Selbstverständlich habe ich es im ersten Moment auf die Pille geschoben, Stress auf der Arbeit und was man sonst eben noch nennt, wenn es einem nicht sonderlich gut geht, sich selbst aber nicht eingestehen will, dass man es selbst ist. Wir suchen immer Faktoren, die von außerhalb kommen, nie den Grund bei und in uns.
Wie verdammt stolz ich war, als ich meine erste Sitzung mit meiner Therapeutin hatte und wie niedergeschmettert ich dort wieder rausgelaufen bin.
Die nächste Sitzung habe ich geschwänzt. Ich habe mir eine Ausrede einfallen lassen, nur um nicht über mich und meine Gefühle reden zu müssen.
Und wieder hat es mich Unmengen an Kraft gekostet doch wieder hinzugehen. In meiner zweiten Sitzung habe ich die meiste Zeit geschwiegen. Im Reden war ich noch nie gut. Und wieso zur Hölle sollte ich eine völlig fremde Person mit meinen Problemen belasten?
Wir haben einen Deal gemacht: Ich muss nicht reden, aber ich soll schreiben. Also schrieb ich. Erst als Art Brief, dann als Tagebucheintrag und dann wieder als Brief. Selbstverständlich kam ich mir am Anfang selten dämlich vor, mich in die Sitzung zu setzen und ihr zuzuschauen, wie sie meine Texte liest.
Jedes Mal, wenn sie fertig war mit lesen, hat sie die Zettel in einem Ordner abgeheftet und diesen langsam geschlossen. Wie in einem Film, wo man die unangenehmen Szenen am liebsten überspringen würde.
Und dann? Wir haben das Ganze Szenario bestimmt 5-6 Sitzungen so durchgezogen. In der Sitzung hat sie meinen Brief nicht abgeheftet. Sie hat mich angeschaut, einfach nur angeschaut. Wie unangenehm ist sowas bitte? Und dann hat sie mich etwas gefragt, womit ich absolut nicht gerechnet hätte: „Würde es all diese Personen, die du in deinen Schreiben erwähnst, nicht geben, wärst du dann noch hier bei uns?“
Entschuldigung? Darf man sowas? Selbstverständlich war meine Reaktion klar: „Natürlich! Das kann ich doch niemandem antun!“ Doch dann hielt ich einen Moment inne. Würde es einige liebe Menschen in meinem Leben nicht geben, hätte ich nicht das Gefühl, ihnen diesen unsagbaren Schmerz ersparen zu müssen, dann wäre ich nicht mehr hier.
Ihr denkt euch jetzt bestimmt: Spricht die jetzt wirklich über Selbstmord? Die Antwort: Ja.
Es gab (und gibt manchmal immer noch) Tage, an denen ich denke, dass all meine Probleme gelöst wären, wenn ich nicht mehr leben würde.
ABER!! Es gibt sie! Es gibt die Menschen, denen ich tatsächlich wichtig bin. Sie verstehen mich nicht immer, ich ja auch nicht, aber sie sind da. Und sie wären vermutlich noch viel mehr da, wenn sie wüssten, wie es mir manchmal geht. Wenn sie wüssten, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil ich mir jeden „Fehler“, den ich je im Leben gemacht habe vor Augen rufe und mir im Nachhinein überlege, wie ich das hätte besser machen können. Und dann lande ich in einer Spirale.
„Du hast ein Telefonat nicht angenommen“ wird zu „Du bist eine Belastung für deinen Arbeitgeber und deine Kollegen.“
„Du meidest den Kontakt zu deinem Vater“ wird zu „Du bist ein schlechter Mensch, wegen dir fühlt er sich bestimmt schlecht.“
Dann zähle ich alle meine Exfreunde auf, überlege, was ich falsch gemacht habe, um niemals die Nummer eins für einen von ihnen gewesen zu sein. Es gab immer etwas anderes, das wichtiger war als ich. Die Feuerwehr oder Fußball zum Beispiel. Und das endet dann damit, dass ich mir selbst einrede, dass ich einfach nicht liebenswert bin, nicht hübsch oder dünn genug, nicht intelligent oder witzig genug. Das mit mir etwas grundsätzlich nicht stimmt.
Tja, so ist das nun mal mit dieser blöden Spirale. Und dann komme ich da einfach nicht wieder raus. Dann funktioniere ich nur noch, aber nur oberflächlich. Arbeitsbeginn um 6:30 Uhr – ich bin da. Geschäftsreise – mach ich. Wohnung aufräumen – absolut nicht. Wäsche waschen – nur wenn ich absolut gar nichts mehr zum Anziehen habe. Doch dann ist da dieser Berg an Müll, dreckigen Geschirr und Wäsche und es ist einfach zu viel! Ich kann mich ja auch einfach auf mein Sofa setzen und eine Serie oder einen Film schauen. Essen? Nur wenn es nicht zu aufwendig ist und ich einen sauberen Topf finde. Ansonsten habe ich halt einfach Pech gehabt.
Aber würde ich das meiner Familie erzählen? Meinen Freunden? Auf gar keinen Fall! Sie würden nur helfen wollen.
Natürlich würde ich dasselbe, ohne zu zögern für jeden meiner Liebsten machen, aber selbst Hilfe annehmen oder noch schlimmer: nach Hilfe fragen? Auf gar keinen Fall!
Womit wir wieder beim Thema vom Anfang sind. Würde ich anderen Leuten helfen, wenn ich ihr unsichtbares Problem sehen würde?
Nein.
Das mag unglaublich hart und egoistisch klingen, dennoch würde ich jedes Mal von mir selbst ausgehen. Und wie wir ja jetzt wissen, würde ich Hilfe von anderen Leuten (mal abgesehen von meiner Therapeutin) nicht annehmen.
Ja, man muss Menschen helfen, ohne Frage. Aber wie soll man jemandem helfen, wenn man selbst am Ertrinken ist?
Das hier ist meine Lösung für mich. Ich teile mich mit, aber nicht in dem ich darüber spreche. Ich schreibe auf, was mich beschäftigt.
Es ist dann natürlich nicht weg. Diese Gefühle und Gedanken sind und bleiben, doch es hilft mir, eben diese zu visualisieren und eventuell sogar anzugehen.
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